Nach unserem Besuch in Yad Vashem fuhren wir im Reisebus den
Herzlberg hinunter, dann weiter Richtung Osten durch immer enger werdende
Straßen hinein ins Häuserdickicht der israelischen Hauptstadt. Dort, wo die
beiden Viertel Gonen Katamon und Griechische Kolonie sich treffen, befindet
sich die Jerusalemer Dependance des „Leo Baeck Instituts“ (LBI), unser nächstes
und gleichzeitig letztes Ziel an diesem Tag. Vor Ort wurden wir von Anja
Siegemund, der gegenwärtigen Direktorin des 1955 gegründeten Forschungszentrums
herzlich empfangen und auch Michael Mertes, Leiter des nur wenige hundert Meter
entfernten Auslandsbüros der „Konrad-Adenauer-Stiftung“ (KAS), und David
Witzthum, Moderator und Chefredakteur bei der Rundfunkanstalt „Israel Broadcasting
Authority“, die sich bereit erklärt hatten, mit uns über den Nahostkonflikt und
vor allem über dessen Darstellung in den deutschen, israelischen und internationalen
Medien zu sprechen, waren anwesend.
Doch zunächst erzählte Frau Siegemund uns vom Leben und
Wirken Leo Baecks, dem Namensgeber des Instituts. Baeck wurde 1873 in der
damaligen preußischen Provinz Posen geboren. Er war zu seinen Lebzeiten nicht
nur ein hoch angesehener Rabbiner und einflussreicher Religionsphilosoph,
sondern galt auch als einer der wichtigsten Köpfe der liberalen Judenheit. 1926
beteiligte er sich maßgeblich an der Gründung der „Weltunion für Progressives
Judentum“. Nach der Emigration des anderen großen jüdischen
Religionsphilosophen, Martin Buber, war Baeck von 1938 bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs der höchste Repräsentant des jüdischen Glaubens in Deutschland. Er
hatte mehrfach die Gelegenheit, der von den Nationalsozialisten beherrschten
Heimat den Rücken zu kehren und ins sichere Ausland zu fliehen. Doch er blieb
und kümmerte sich weiter um die Menschen in seiner Gemeinde, auch dann, als man
ihn ins Konzentrationslager Theresienstadt steckte. Nach dem Zusammenbruch des
NS-Regimes und der Befreiung durch die Alliierten siedelte Baeck nach London
über, wo er schließlich 1956 starb.
Das von ihm gegründete „Institut zur Erforschung des
Judentums in Deutschland seit der Aufklärung“ war schon im Jahr zuvor in „Leo
Baeck Institut“ umbenannt worden. Seit dieser Zeit, so Direktorin Siegemund,
fungiere die Einrichtung als wichtige Dokumentationsstätte für die Geschichte
der deutschsprachigen Juden. Das LBI Jerusalem sei darüber hinaus „das führende
israelische Forschungszentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Deutschland
und Zentraleuropa“. Überdies verfügt man noch über Zweigstellen in New York und
London. Diese Städte waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die
größten Emigrationszentren für deutsche Juden. In Deutschland selbst unterhält
das Institut eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft und kooperiert seit vielen
Jahren mit dem Bundesministerium des Inneren sowie mit mehreren Forschungseinrichtungen wie zum Beispiel dem
in Berlin ansässigen „Zentrum für Antisemitismusforschung“.
In Frankfurt residiert obendrein der Verein „Freunde und
Förderer des Leo Baeck Instituts“, und in dessen Vorstand sitzt, unter anderen,
Michael Mertes. Der Jurist und ehemalige Bundesbeamte ist gleichzeitig der
Leiter des Auslandsbüros Israel der KAS. Er sprach mit uns zunächst über seinen
Amtsantritt im Sommer 2011 und schilderte seine persönlichen Eindrücke und
Erfahrungen sowie die Atmosphäre, die er damals vorgefunden hatte. Das für
Mertes nach wie vor „unglaublich spannende und interessante Land“ habe eine
extrem heterogene, aber auch offene Gesellschaft, die für ihn „intellektuell
außerordentlich anregend“ sei. Seine bisherige Arbeit für die KAS in Israel sei
besonders von zwei Ereignissen geprägt gewesen: Zum Einen vom „Arabischen
Frühling“, den die Israelis jedoch als „arabisches Erwachen“ bezeichneten, denn
sie betrachteten die politischen Umwälzungen in den Nachbarstaaten mit großer
Ambivalenz und Ungewissheit. Die Erstürmung des israelischen Botschaftsgebäudes
in Ägypten im vergangenen September und der fast vollständige Zusammenbruch des
staatlichen Gewaltmonopols auf der Sinai-Halbinsel hätten unter den
israelischen Nachbarn Schock und Entsetzen verursacht. Der verstärkte
Waffenschmuggel in den Gaza-Streifen und die zunehmenden Raketenangriffe auf
Städte wie Aschdod und Be'er Sheva seit Beginn dieses Jahres täten ihr Übriges,
so Mertes.
Die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Syrien
verfolge man ebenfalls mit größter Skepsis und Sorge. Mertes thematisierte auch
die Diskussionen in Israel um die Frage einer möglichen atomaren Bewaffnung des
Iran. Weiterhin kam Mertes auf die innenpolitische Situation des jüdischen
Staates und hier vor allem auf das zweite große Ereignis seit seinem
Amtsantritt zu sprechen, nämlich die Massenproteste im vergangenen Sommer. Er
kritisierte, dass die Ursachen dieser sozialen Spannungen in deutschen wie
internationalen Medien nur verkürzt dargestellt worden seien. Die landesweiten
Demonstrationen hätten sich zwar in erster Linie gegen zu hohe Steuern, Mieten
und Grundstückspreise gerichtet, der Grundkonflikt liege aber woanders. Er
beruhe auf einer tiefen Spaltung der israelischen Gesellschaft. Der
KAS-Büroleiter veranschaulichte die Situation anhand eines Witzes, der im Land
zurzeit die Runde macht: „Ein Drittel der Israelis leistet Wehrdienst, ein
Drittel arbeitet und ein Drittel zahlt Steuern. Das Problem ist nur, dass es
immer dasselbe Drittel ist.“ Doch große Teile der säkular-liberalen
Mittelschicht seien nicht länger bereit, für andere Bevölkerungsgruppen zu
schuften und dabei selbst immer weiter zu verarmen. Fast nirgendwo sonst in der
westlichen Welt finde sich eine so große Kluft zwischen Arm und Reich. Die
Ultraorthodoxen, die in der Regel vom Wehrdienst befreit seien, dank
staatlicher Transferleistungen nicht arbeiten müssten, aber dennoch
größtenteils in Armut lebten, sorgten mit ihrem immer offensiveren Auftreten im
Alltag zusätzlich für sozialen Zündstoff. Andersdenkende würden von ihnen
ignoriert oder diskriminiert, und die Idee einer Geschlechtertrennung im
öffentlichen Leben stoße bei vielen religiösen Fanatikern auf Zustimmung. Der
israelische Staat müsse hier, zusätzlich zu den gewohnten existenziellen
Bedrohungen von außen, nun auch noch mit einem innenpolitischen Kulturkampf
fertigwerden, so Mertes.
Es folgte dann ein kurzer Einblick in die tägliche
Stiftungsarbeit, die seit Beginn des „Arabischen Frühlings „auf jeden Fall
schwieriger geworden ist“ so Mertes. Der Leiter des KAS- Büros erzählte auch
noch von Projekten und Kooperationen, wie beispielsweise der Förderung junger
Beduinen im Bereich der Bildungspolitik, an denen die Stiftung sich gegenwärtig
beteiligt.
Dann übergab er das Wort an David Witzthum. Der Journalist
und Autor, der zudem Mitglied im Vorstand des LBI Jerusalem ist, sprach
zunächst über die mediale Darstellung des Nahostkonflikts in der Vergangenheit
und kommentierte dann die aktuelle politische Situation in der Region und die
Reaktionen der Presse hierauf. Die Berichterstattung über Israel sei in Israel
selbst grundsätzlich differenzierter als diejenige in Deutschland und Europa. Gehe
es um das kleine Land am Mittelmeer, schreibe und sende die deutsche Presse
seit Jahrzehnten fast ausschließlich über den Konflikt mit den Palästinensern.
Für die meisten Journalisten in der Bundesrepublik seien dies die einzigen
erwähnenswerten Nachrichten. Andere Themen kämen quasi nicht vor. In israelischen
Medien wiederum gebe es immer weniger Schlagzeilen und Berichte über das, was
sich in den palästinensischen Autonomiegebieten beziehungsweise in den
Siedlungen im Westjordanland abspielt. In Jerusalem und Tel Aviv interessiere
man sich hauptsächlich für Neuigkeiten aus den USA, Europa und Asien. Die
Entwicklungen in der arabischen Welt und im Iran verfolge man ebenfalls sehr
aufmerksam. Laufen auf einem israelischen Fernsehkanal aber Nachrichten aus
Gaza oder Reportagen aus Ramallah oder Hebron, „schalten die meisten Israelis
um“, so Witzthum.
Der Medienexperte sprach dann auch über die seit dem Jahr
2002 im Bau befindliche Sperranlage zum Westjordanland, die von einer großen
Mehrheit der israelischen Bürger befürwortet wird, sowie über das Schicksal des
im Jahr 2006 entführten und im vergangenen Oktober freigelassenen Soldaten
Gilad Schalit. Anhand dieser beiden Themen veranschaulichte er noch einmal, wie
verschiedenartig internationale Presseorgane auf der einen und israelische
Presseorgane auf der anderen Seite über die politischen Entwicklungen vor Ort
berichteten. Drehten die Schlagzeilen sich dann noch, wie im Fall Schalit, um
ein emotional hoch aufgeladenes Thema, träten die Unterschiede besonders stark
zutage. „Gilad Schalit war ja in den Augen vieler Israelis, auch dank einer
ausgeklügelten PR-Kampagne, nicht mehr nur ein einfacher Soldat. Fast jede
Familie hier betrachtete ihn zeitweise als eigenes Kind und verlorenen Sohn“,
sagte Witzthum.
Solche „personalisierten Geschichten“ und deren Verbreitung
über möglichst viele Kanäle führten zwar zu einer durchaus beachtenswerten
Mobilisierung der Gesellschaft bis hin zu weltweiter Anteilnahme. Allerdings
sehe er hier auch die „Gefahr einer Entpolitisierung des Nahostkonflikts“.
Und dies könne nicht im Interesse von Politik und Presse
sein.
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