Donnerstag, 1. März 2012

‚Get together‘ in der Knesset

Am ersten Tag in Jerusalem haben wir auch einen Termin in der Knesset, dem Parlament Israels. Während der Führung erfahren wir die wichtigsten Basics zum Parlament und Wahlsystem: Die Knesset besteht aus 120 Mitgliedern und ist ein Einkammernparlament. Aufgrund von einer nur sehr niedrigen Sperrklausel von zwei Prozent stammen dessen Mitglieder, die für eine Legislaturperiode von vier Jahren gewählt werden, aus vielen verschiedenen, zum Teil sehr kleinen Parteien, weshalb sich die Regierung bisher immer aus einer Koalition zusammensetzen musste, um die Mehrheit von 61 Sitzen im Parlament zu erreichen. Nach dem es die Kadima-Partei als stärkste Partei mit 28 erzielten Sitzen in der 2009er Wahl nicht geschafft hatte eine Koalition zu bilden, führt nun Premierminister Benjamin Netanjahu als Vorsitzender der konservativen Likud-Partei (27 Sitze) eine Koalition von sechs zum Teil sehr unterschiedlichen Parteien an. Hier steht sich die starke Repräsentation der Meinungsvielfalt, auch von Minderheiten, einer effektiven und handlungsfähigen Arbeitsweise gegenüber, was nicht selten zu fragilen Regierungen führt. In diesem speziellen Fall stehen sich sogar stark rechtsgerichtete Parteien der linken Arbeiterpartei gegenüber, was die Diskussionsgrundlage noch weiter verkompliziert.

Die Knesset kontrolliert den Premierminister und entscheidet beispielsweise über Kriegseinsätze. Ihre Abgeordneten wählen den Präsidenten für eine Legislaturperiode von sieben Jahren.

Der Plenarsaal ist das Herz der Knesset, da hier alle Entscheidungen getroffen werden. Die Sitze und Tische sind so angeordnet, dass sie eine Minora, einen siebenarmigen Leuchter, bilden. 16 Mitglieder sind nicht jüdisch, sondern muslimisch oder christlich, und es gibt 26 weibliche Abgeordnete. Die Sitzungen finden von Montag bis Mittwoch statt. Sie sind öffentlich zugänglich und werden vom eigenen TV-Sender live übertragen. Auf der Galerie gibt es Plätze für Besucher und einen Bereich für Ehrengäste wie Botschafter oder ähnliche persönlich eingeladene Gäste. Der Platz des Präsidenten ist durch einen roten Teppich gekennzeichnet.

Neben den exekutiven Funktionen wohnt der Knesset auch eine wichtige repräsentative Funktion und emotionale Bedeutung inne. Hier wurde schon oft Geschichte geschrieben: So empfängt die Knesset unterschiedlichste, wichtige Staatschefs, ehemalige Feinde wie der frühere ägyptische Präsident Sadat sprachen hier, die Unabhängigkeitserklärung wird hier aufbewahrt und die Trauerfeier zur Ermordung Jitzchak Rabins fand ebenfalls in diesen Gebäuden statt. Es gibt einen TV-Sender, der live von den Debatten berichtet und somit direkt bei der öffentlichen Bildung mitwirkt.

In der Eingangshalle wird das Original der Unabhängigkeitserklärung ausgestellt sowie drei sehr große Wandteppiche und Wand- beziehungsweise Bodenmosaike des russisch jüdischen Künstlers Marc Chagall. Inhaltlich befassen sich diese Wandteppiche mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des jüdischen Volkes, wobei mit ersterem der Auszug aus Ägypten, danach das Glück über den endlich errungenen, eigenen Staat und mit letzterem das Ende aller Tage gemeint ist.

Nach dieser Führung hatten wir die einmalige Gelegenheit mit zwei Vertretern der Knesset zu sprechen: zum einen eine Koordinatorin der Likud-Partei, die jedoch nicht direkt zur Partei gehört, sondern von der Knesset bezahlt wird, und zum anderen einem Vertreter der oppositionellen Kadima-Partei aus dem Bereich Auslandsbeziehungen. Als Probleme sehen beide eindeutig, dass sich die israelische Politik zu lange fast ausschließlich um Sicherheitsbelange gekümmert habe. Dies schlüge sich dann natürlich auch in der finanziellen Verteilung nieder, so dass gerade für Soziales zu oft zu wenig übriggeblieben ist. Doch die aktuelle Situation zeige, dass genau diese Punkte bei der Bevölkerung als wichtiger eingestuft werden: zu hohe Preise und zu niedrige Löhne, die Situation der arabischen Israelis und auch die Friedensverhandlungen mit der palästinensischen Autonomiebehörde. Es gäbe zu viele Stimmen und Meinungen, so dass am Ende außer dem Sicherheitsaspekt nichts richtig angegangen würde. Auch wenn sich beide darin einig sind, dass die Sperrklauselregelung geändert werden müsse, sei nicht sie direkt das Problem, sondern die relative Bedeutung der kleinen Parteien innerhalb einer Koalition. Aktuell werde sich dieses Problem jedoch nicht angehen lassen, da in der Koalition Parteien sitzen, die selbst nur vier Prozent der Stimmen errungen haben. Bei solchen Unstimmigkeiten innerhalb der Regierung, beispielsweise auch Fragen, die das Verhältnis von Staat und Religion betreffen, argumentiere man mit dem Status Quo und setze einfach ein Veto ein. Auf diese Weise komme es gerade an solch kritischen Punkten zu keinen Veränderungen. Beim Thema Verfassung sähe es ähnlich aus. Auch hier könnten sich die Vertreter der verschiedenen Positionen seit Beginn an nicht einigen: ultra- orthodoxe Gruppierungen verlangten die Aufnahme des „jüdisch“ in die Staatsbezeichnung und stellten dies über das „demokratisch“. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung lehne solch einen religiösen Lebenseinfluss jedoch ab, ganz zu schweigen von der muslimischen israelischen Bevölkerungsgruppe, die hiermit nicht berücksichtigt würde. Somit bliebe noch einiges zu tun, was ihren Job manchmal sehr anstrengend und kompliziert gestalte, man benötige viel Fingerspitzengefühl, aber genau dies mache es auch so spannend.

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